Ein Tag ohne Vorurteile (Kurzgeschichte)

Naomi konnte nicht rot werden. Das war ein praktischer Vorteil an ihrer dunklen Hautfarbe.

Das Blut schoss ihr einfach nicht in den Kopf wie das bei hellhäutigen Menschen der Fall ist, wenn sie sich aufregen. Da ihr das Blut nicht in den Kopfschoss, fing ihr Herz auch nicht wie wild an zu klopfen wennsie sich aufregte, was ja auch oft passiert, wenn normale Menschen rot werden.

Naomi bekam auch keine feuchten Hände und auch keine Schweißtropfen auf der Stirn, eine weitere, häufige Begleiterscheinung des Rot-Werdens. Körperlich konnte man also nicht erkennen wenn ihr zum Beispiel etwas peinlich oder wenn sie wütend war. Wenn sie wütend wurde merkte man das nur an Ihrer Stimme, denn dann wurde sie lauter und verwandelte sich in ein löwenartiges Brüllen. Typisch für dunkelhäutige Menschen.

Naomi studierte Germanistik und Schauspielerei. Das sie damit zwei brotlose Künste vereinte, war ihr offenbar nicht bewusst und wurde ihr erst an dem Tag klar, als sie die Rolle als Pornodarstellerin in einem verruchten Theaterstück in einem kleinen schmuddeligen Theater annehmen musste. Dort spielte sie nun Abend für Abend für einen Hungerlohn, der ihr knapp zum Überleben und zum Zahlen der Studiengebühren reichte.

An diesem teilweise bewölkt, teilweise sonnigen Donnerstag-nachmittag, von dem hier berichtet wird, kam Naomi gerade im Theater an, an dem sie engagiert war. Sie war sehr erschöpft, denn zuvor hatte sie ihre beste Freundin Ayse Niksverstanöglü auf Ihrem fast täglichen Aldi und Woolworth-Schnäppchen-Marathon begleitet. Unter anderem hatte Ayse nach neuen Goldkettchen für ihren Mann, (oder Cousin, denn er war sowohl das Eine als auch das Andere) Ali gesucht, wobei Naomi sie beraten sollte.

Nun saß Naomi also im Theater, im Büro des Hausmeisters Gaylord. Gaylord war ein sehr femininer Typ, nahe am Wasser gebaut, mit einer großen Schwäche für XXL-Volume Wimperntusche und Kirschlipgloss. Außerdem sprach er sehr nasal und war stets auf der Suche nach einem One Night Stand. Doch all das war normal, denn Gaylord war schwul.

Als sie nun in Gaylords Büro saßen und er ihr, wie so häufig, von der neuesten Geschlechtskrankheit erzählte, die er sich eingefangen hatte, wurde Naomi plötzlich von der Obersekretärin des Theaters, Frau Obermeier, zu einer Versammlung gerufen. „Und seien sie pünktlich auf die Sekunde“, sagte Frau Obermeier noch, während sie sich den Rock glatt strich, denn Frau Obermeier legte äußersten Wert auf Pünktlichkeit und Ordnung. Im Versammlungssaal traf Naomi die Putzfrau Agnes aus Polen, die bereits ihre Taschen voller Requisiten hatte, welche sie heimlich in der Theatergarderobe hatte mitgehen lassen. Frau Obermeiers Ehemann, stets in Lederhosen gekleidet, servierte zur Feier des Tages Schweinshaxen und Bier. Und es gab auch etwas zu feiern. Die Versammlung fand nämlich statt, um einen neuen Intendanten vorzustellen, Herrn Luigi Parmesano aus Italien. Er sollte nun die Leitung im Theater übernehmen. Für ihn gab es übrigens Pizza und Pasta, denn er ernährte sich ausschließlich davon.
Als Herr Parmesano Naomi und Agnes erblickte, begann das italienische Feuer in im zu lodern. Er konnte nicht anders als seiner Natur zu folgen und die beiden mit einem „Ciao Bella!“ und einem gekonnten Pfeifen zu begrüßen. Dazu gab es für beide noch einen Klaps auf den Hintern und eine sexistische Einladung zu einer kleinen Spritztour in seinem neuen Ferrari.

Während nun alle aßen und tranken schrie Frau Obermeier plötzlich auf und sprang auf einen Stuhl. „Eine Maus, Hilfe eine Maus!“ schrie sie. Und tatsächlich, unter dem Tisch huschte ein kleines Tier zwischen den Füßen der Leute umher, die an ihm saßen. Alle Frauen fingen also an zu schreien und zu weinen und sprangen angsterfüllt umher. Zu allem Übel rief Herr Parmesano auch noch „Das iste keine Mause, das iste eine Ratte!“, was das Verhalten der Frauen nicht besserte. Doch Rettung kam. Und zwar in Gestalt von dem Amerikaner John Doe, der in dem Theater eine kleine Nebenrolle als Superman spielte. Er trug noch sein Supermankostüm, das er in den Proben getragen hatte, die er für die Versammlung hatte unterbrechen müssen. Todesmutig warf er sich auf die Ratte. In einem atemberaubenden Kampf, wohl bemerkt um Leben und Tod, besiegte er die Ratte letztendlich und überlebte den Kampf mit einigen leichten Blessuren. Der Versammlungssaal kreischte und jubelte und die Frauen warfen ihm in völliger Ekstase ihre Unterwäsche zu. Er warder Held des Tages und sollte in die Geschichte des Theaters eingehen.

Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten rief Frau Obermeier das chinesische Dienstmädchen Ping Pong, das zudem alle Kostüme des Theaters nähte, in den Saal. „Ping Pong, bitte gehen sie doch zu unserem Hausmeister Gaylord und sagen ihm, dass unser Herr Doe hier eine Ratte für ihn hat, die er doch bitte beseitigen soll.“, trug Frau Obermeier dem Dienstmädchen auf. Als Naomi dies hörte wäre sie am liebsten im Erdboden versunken. Der Appetit war ihr vergangen und sie leckte sich die Finger sauber, da sie ihr Essen grundsätzlich mit den Händen und ohne Besteck aß. Einen so gewaltigen Anflug von Fremdscham hatte sie noch nie zuvor verspürt. „Gott sei Dank“, dachte sie sich „Gott sei Dank kann ich nicht rot werden!“. Denn jeder weiß doch, dass einfach alle Chinesen das „R“ nicht aussprechen können.


Eine Kurzgeschichte von Esther Donkor

Comic: http://ec.europa.eu/publications/archives/young/01/txt_whatme_racist_de.pdf

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